Gegenstand der Betrachtung: Micha 1,1-9.
Mi. 1,1 Der Eröffnungsvers enthält wichtige Informationen zum Verständnis des Textes. Micha bezeichnete die Botschaft seines Buches als das Wort des HERRN. Gott wollte, dass sein Volk auf der Grundlage seines Wortes zu vernünftigen Entschlüssen und Handlungen gelangte. Die Religion Israels stand in direktem Gegensatz zu den zeitgenössischen heidnischen Fruchtbarkeitskulten, in denen die sinnliche Erfahrung die höchste Form religiösen Ausdrucks war.
Das Wort des Herrn „geschah“ und wurde „geschaut“. Das hebräische Wort für »Vision« vermittelt die Vorstellung, dass Gott Micha den Text eingab und der Prophet ihn geistig und spirituell vor sich »sah«.
Micha. 1,2-7 – Vorhersage des kommenden Gerichts
Diese Verse bilden den Hintergrund für das gesamte Buch. Nach dem Aufruf an die Menschheit, Gottes Anklage gegen sein Bundesvolk zu hören (Höret, alle Völker; V. 2), sprach der Prophet von den Folgen der Strafe Gottes (V. 3-4), von der Ursache für das Gericht (V. 5) und von dessen Unvermeidlichkeit (V. 6-7). In der Art eines kosmischen Gerichtshofes lud Micha alle Völker der Erde auf die »Geschworenenbank«, um zu hören, was Gott als Zeuge über die Sünden seines Volkes zu sagen hatte. Nach Ansicht des Propheten würde jeder, der dazu seine Stimme abgeben durfte, das Gericht Gottes für gerecht halten.
Nach den Worten des Propheten wollte der HERR aus seinem heiligen Tempel kommen. Gott sich entschlossen, in der Stiftshütte und später im Tempel – auf dem »Sitz der Gnade« über der Bundeslade – gegenwärtig zu sein. In der Lade lagen zwei Tafeln, auf denen die Zehn Gebote, ein Teil des Wortes Gottes, aufgezeichnet waren. Wenn also vom Herrn gesagt wird, er komme »aus seinem heiligen Tempel«, um als Zeuge gegen sein Volk aufzutreten, so ist damit gemeint, dass Gott das Volk auf der Grundlage seines Gesetzes richten wollte.
Mi. 1,3-4 Der Prophet forderte die Menschen auf, Gott, der seiner Wohnung zum Gericht kommt, zu suchen. Er schilderte, wie Gott auf den Höhen der Berge wandelt. In seiner Majestät ist er wie ein Riese, der von einem Berggipfel zum anderen schreitet. Gott kann tun, was er will, ohne dass ihn irgendjemand aufhalten kann. Wenn er auf die Berge tritt, schmelzen sie unter ihm, wie Wachs vor dem Feuer zerschmilzt oder wie die Wasser, die unaufhaltsam talwärts stürzen. Selbst die Täler spalten sich, zerstört von Gottes schrecklicher Macht. Die »Höhen« (Vers 3) könnten sich auf heidnische Heiligtümer beziehen, die auf den Bergen standen.
Mi. 1,5 Der Grund für das Gericht besteht in Jakobs Übertretung und in den Sünden des Hauses Israel. Der Name »Jakob« wird im Buch Micha insgesamt elfmal erwähnt. Neunmal bezieht er sich auf das ganze Volk Israel. Die Wörter »Übertretung« und »Sünde(n)« finden sich viermal im Text (Mi. 1,5; 3,8; 6,7; 7,18).
Die Sünden der Einwohner von Samaria, der Hauptstadt Israels, und Jerusalem, der Hauptstadt Judas, stehen für die Sünden beider Völker. Die beiden Hauptstädte waren offensichtlich negative Vorbilder für das ganze übrige Land, denn im städtischen Umfeld wurden die schlimmsten Sünden begangen.
Der Begriff »0pferhöhe« bezeichnet einen Ort auf einem Berg oder einer Anhöhe, an dem die Menschen Gott anbeteten (z.B. 2.Chr. 33,17) oder Götzen verehrten. Die heidnischen Völker in Israel errichteten ihre Heiligtümer häufig auf Hügeln (vielleicht deshalb, weil sie sich ihren Göttern dort näher glaubten). Von den Gläubigen des Volkes Gottes wurde erwartet, dass sie nach Jerusalem kamen, um Gott zu verehren. Viele gaben jedoch, angezogen von den nahe gelegenen heidnischen Höhenheiligtümern, den Gottesdienst für den HERRN zugunsten heidnischer Kulte auf. Das kam selbst in Jerusalem vor. Kein Wunder also, dass Micha Jerusalem sarkastisch die »0pferhöhen Judas« nannte. Die Einwohner der Stadt gehorchten Gott in ihren äußeren Gebräuchen ebenso wenig wie innerlich.
Mi. 1,6 Gottes Gericht sollte zuerst über das Nordreich (V. 6-7), hereinbrechen. Die Hauptstadt des Nordens, Samaria, sollte völlig – bis auf den Grund – zerstört werden. (Ihre Ruinen können noch heute besichtigt werden.) Diese Prophezeiung erfüllte sich, als die Assyrer Samaria im Jahre 722 v.Chr. nach dreijähriger Belagerung einnahmen (2.Kön. 17,1-6). Die Zeit vor dem Untergang der Stadt war durch politische Intrigen und Morde gekennzeichnet Der größte Teil der Bevölkerung Samarias und des Nordreiches wurde verschleppt, und andere Völker, die sich mit den Übriggebliebenen vermischten, wurden im Lande angesiedelt (vgl. 2.Kön. 17,6; 22-24).
Mi. 1,7 Dem Treiben Samarias mit seinem Götzendienst, den zahllosen Götzen und Götzenbildern, sollte nach den Worten des HERRN durch die totale Zerstörung der Stadt ein Ende gemacht werden. Samarias Götzen sollten zerbrochen, der Hurenlohn verbrannt und die Götzenbilder zerstört werden. Im Baalskult, einer heidnischen Fruchtbarkeitsreligion, gab es »heilige«, dem Kult heidnischer Fruchtbarkeitsgottheiten vorbehaltene Prostituierte. Den Hurenlohn, den die Tempeldirnen erhielten, übergaben sie als »Weihegaben« dem Tempel, eine Praxis, die anscheinend auch in Samaria Fuß gefasst hatte. Diese verbotene Sexualität ist dabei gleichzeitig ein Bild für die unerlaubte Abkehr des Nordreiches von seinem feierlich besiegelten Bund mit dem HERRN. Die Israeliten waren durch einen »Ehevertrag« an Gott gebunden, und der Abfall zu anderen Göttern war gleichbedeutend mit religiösem Ehebruch. Die Israeliten hatten sich andere Götter erwählt, daher würde Gott sie in Länder verbannen, in denen man fremde Götter verehrte – und ihnen damit geben, was sie so offensichtlich begehrten.
Mi. 1,8-9 Micha war bis ins Innerste über die dem Nordreich drohende Strafe erschüttert. Klagen und heulen, barfuss und ohne Obergewand (bloß) umhergehen waren Zeichen tiefster Trauer (2. Sam. 15,30; Jes. 20,2; 22,12; Jer. 25,34). Der Prophet identifizierte sich mit den Menschen; er fühlte sich so verlassen wie die Schakale (nachtaktive Aasfresser) oder die Strauße (in anderen Übersetzungen: »die Eulen«), die an öden Plätzen leben. Für Micha war diese Strafe, gegen die man so wenig ausrichten konnte wie gegen eine unheilbare Wunde, so greifbar, als wäre sie schon eingetreten. Dabei hatten die Sünden des Nordreiches so großen Einfluss auf Juda gewonnen, dass die Plage (Gottes Gericht) auch über das Südreich kommen und auch Jerusalem nicht verschonen sollte. Das geschah 701 v. Chr. als das assyrische Heer 46 Städte in Juda zerstörte und schließlich Jerusalem belagerte (2. Kön. 18 u. 19).